Er war da und saß im Garten
Aus volkskundlicher Sicht ist ein vom Menschen veränderter Stein ein Dingsymbol und wichtiger Bedeutungsträger. Dessen alltägliche Gebräuchlichkeit ist umso bemerkenswerter (für uns Alltagsforscher), je selbstverständlicher und unhinterfragter er symbolisch benutzt wird.
Pfelders Findling transportiert auf dieser Ebene ein als logisch empfundenes Wiedererkennen unbewusst inkorporierter Bedeutungen aus Spruchweisheiten und Redewendungen, die ihren Ursprung in der Bibel, mittelalterlichen Folterpraktiken oder einfach in den geologischen Fakten haben: Pfelder hat einen Stein des(Denk-)Anstoßes installiert.
Im Kleinen Tiergarten, wo sich seit Jahrzehnten Menschen mit und ohne jener als „Migrationshintergrund“ bezeichneten Herkunft begegnen, steht
der grabsteinartige Granit fast klein, aber unverrückbar schwer gegenüber dem LAGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales) – jenem Symbol verwaltungstechnischer Hilflosigkeit angesichts der Schieflage zwischen den zu erledigenden Formalitäten und der akuten Not der um Asyl bittenden Menschen.
Die – vom ältesten Steinmetzbetrieb Berlins – in jenen Findling gemeißelten 2 Wörter „Sorgen“, „Cares“ und „قلق“ erinnern uns ohne besondere Überlegung an die Phrase vom Stein, der auf dem Herzen liegt oder mit Glück vom Herzen fällt, ohne den Fuß zu treffen. Das türkische Märchen vom Geduldsstein, dem ein verzweifelt verliebtes Mädchen so lange die eigenen Sorgen anvertraut, bis dieser platzt, und der Prinz das Mädchen nur in letzter Sekunde retten kann, ist vermutlich unbekannter, aber trotzdem eine schöne Assoziation, für die ich Pfelder danke.
Pfelder ließ den Stein – die Weisheit „Den Stein, den man allein nicht heben kann, soll man liegen lassen“ ignorierend von der Balkanroute nach Moabit transportieren – nachdem er vor über 10.000 Jahren mit den Gletschern der Würm-Eiszeit aus den Alpen nach Mazedonien gekommen war. Ein Spiegel für die ängstlich-hasserfüllte Empfindung und Symbolisierung von Flüchtlingsströmen als Naturkatastrophe, aber eben auch und vielleicht wichtiger noch ein weiteres Spiel mit Assoziationen zu unserem Wissen und unseren Vorstellungen zu großen (Migrations)Bewegungen historisch und gegenwärtig.
Völlig unwissenschaftlich, aber dafür auch mit weniger Fremdworten, möchte ich nun noch etwas über den Findling aus meiner Sicht als begeisterte Betrachterin von Pfelders Kunst schreiben: Die in Pfelders Werk besonders berührende melancholisch-heitere Ebene empfinde ich im Findling außerordentlich stark. Ausgelöst hat er tausende von Gedanken zu Geröll und Endmoränen, zur Übersetzung von deutschen Wörtern wie Sorge, sich sorgen, besorgt sein, zu Wortspielen mit Flüchtling, Findling, Schmetterling, Riesling, zu Möglichkeiten, wie der Stein im Park Freude, Lächeln und Nachdenken schenken kann. Vor allem aber hat der Findling mich an ein altes Kinderbuch über einen Hund erinnert, sowohl dadurch, dass er einfach plötzlich im Kleinen Tiergarten stand, als wäre er schon immer da gewesen, als auch durch die Mischung aus Witz, Traurigkeit und Schönheit:
Er war da und saß im Garten. (He was There from the Day We Moved in.)
Urte Evert