Tagebuch-Eintrag einer nicht ganz unvoreingenommenen Besucherin.
Interlaken West: Ankunft auf dem Bahnhof. Ich gehe durch die Bahnhofstrasse Richtung Höheweg. Die Bahnhoftrasse wird von vielen Uhrenläden gesäumt, fällt mir auf. Ein Restaurant schreibt die Gerichte in English, Japanisch, Chinesisch und Arabisch an.
Dann, nach einem grossen Kreisel und einem Stück auf dem Höheweg steht man vor der berühmten Höhematte, die den Blick auf die Jungfrau und Schynige Platte freigibt. Die Matte ist seit der Belle Epoque das touristische Herzstück von Interlaken und lässt einen erstmal überrascht den Kopf nach hinten kippen und das Panorama geniessen. Der Höheweg selbst ist gesäumt vom Grand Hotel Victoria Jungfrau, verschiedenen kleineren Hotels, einem Hotelturm namens Metropol aus den 1960er Jahren, aber auch von Wohnhäusern und dem Kunsthaus selber. Die Höhematte bildet die Kernzone der Ausstellung «THEY ARE HERE».
Die Bezüge zu diesem Stück Natur mitten in der Touristenstadt und dem Ausstellungsthema sind fein geknüpft. Die Ausstellung umfasst Werke von 7 Kunstschaffenden, die diese Linien meist vom Aussenraum/öffentlichen Raum ins Innere des Kunsthauses knüpfen.
Vor dem Kunsthaus stehen verschiedene mit Heu vollbeladene Heinzen. Solche Heuheinzen helfen vor allem dann, wenn der Boden zu feucht ist, um das Heu trocknen zu lassen. Diese Heuheinzen sind eine gemeinsame Arbeit der in der Region ansässigen Künstlergruppe l’art pour l’aar, die auf hintersinnige Weise den Übergang von einem ländlichen Ort zur Stadt reflektiert. Im obersten Stock des Kunsthauses steht eine zweite Gruppe von Heuheizen von l’art pour l’aar– «Souvenirs» – die statt Heu Kleider zu einem Haufen gebündelt tragen. Diese Kleider stammen aus verschiedenen Hotels in Interlaken, wo sie liegengeblieben, vergessen worden sind. Relikte aus dem Tourismusbetrieb, als eine Art Ernte dem Besucher präsentiert. Die Künstlergruppe sticht somit ins Zentrum der Aktivität von „Stadt Berichten“. Sie erzählt von dem Phänomen, das den Tourismus heute als Konsumgut präsentiert. Orte, Landschaften werden in schnellem Tempo konsumiert. Einpacken und Auspacken der Koffer, ab und zu bleibt etwas liegen. Shoppen gehört ja heute zur Hauptaktivität der Touristen.
Aus dem Fenster des Kunsthauses weht eine weisse Fahne. Sie zeigt einen Luchs mit stark geflecktem Fell. Diese Fahne trägt keine Werbeaufschrift. Nur die Zeichnung dieses hierzulande eher seltenen Tieres. Die Zeichnungen von Nicole Schuck karthographieren Fährten von Tieren, die den Stadtraum von Interlaken kreuzen, sei es in der Luft oder am Boden: «Zeittiere und 1251 Einwohner je km2» heisst diese Serie. Im ersten Stock des Kunsthauses finden sich ihre Zeichnungen, die verschiedene Orte beschreiben – Grad, Luegibrüggli, Lombach, Harder – und daran erinnern, dass Interlaken als Tourismusort genau aus solchen Orten besteht, an denen sich die Fährten ihrer Benutzer kreuzen: die Gleitschirmflieger, die Biker, aber auch der Marder, der Fuchs, der Luchs, die Bussarde.
Vor dem Grand Hotel Victoria Jungfrau bietet sich der Höheweg als eine Esplanade, auf dem die Menschen wie in vielen Fremdenverkehrsorten der Welt flanieren. Sitzbänke säumen diesen Weg. Und auf einer Sitzlehne findet sich eine Traube von Schlössern aus Messing, die an die Bank gekettet sind. Eines der heutigen modernen Rituale, sich an einem touristischen Hotspot zu verewigen, ein Schloss an eine Brücke, an einen Brunnen, an ein Geländer anzubringen. Die Schlüssel zu den Schlössern finden sich im Innern des Kunsthauses, im ersten Stock im Rahmen einer Wandinstallation von Véronique Zussau, gebildet aus den verschiedenen ineinandergeklappten Horizontlinien von Landschaftszeichnung der Umgebung. Véronique Zussau interessiert sich in ihrer Arbeit für die Verbindung zwischen Topographien und Objekten, und so legt sie in ihrer «True Landscape» eine gedankliche Linie zu dem «Point of interest» auf der Parkbank.
In dem Ladengeschäft der IBI neben dem Kunsthaus blinkt es…. Zwei gelbleuchtende Augen schauen einen an. Eine seltsame Lampe steht da im Schaufenster. Es ist eines der «Alien» von Gustav Hellberg, die man an verschiedenen Orten in der Stadt und im Treppenhaus des Kunsthauses findet. Später, beim Verlassen der Stadt in Richtung Autobahn, fahren wir an Erich von Daenikens „Mystery Park“ vorbei (heute „Jungfraupark“). Ob sich Gustav Hellberg von Erich von Daenikens Theorien inspiriert fühlte?
Im Parkhaus Zentrum bei der Einfahrt finden wir auf einem Parkplatz ein merkwürdiges kleines Haus aus Karton, eine Art Biwak, fast in der Form eines Schlafsackes mit rundem Einstieg. Das Objekt gehört zu einer Serie von sechs Kleinhäusern aus Karton, initiiert durch den Künstler Pfelder. Pfelder hat von verschiedenen Architekten aus der Region Bern und Interlaken, verschiedene Kartonhäuser entwerfen lassen und diese dann gebaut. Das Kartonhaus erinnert normalerweise an eine Unterkunft von Obdachlosen aus der Grossstadt, in der Kunstwelt wiederum ist es besetzt durch die ephemeren Karton-Diskurs-Bauten von Thomas Hirschhorn. Der Hintergrund zu dieser Idee deckt aber noch eine andere Geschichte auf : das Recyclingkonzept in der Stadt Interlaken lässt einmal pro Woche eine grosse Kartonsammlung vor den Geschäften der Stadt entstehen. Pfelder hat dieses Material gesammelt und die Menge einer Woche ins Museum gebracht (im obersten Stockwerk). Die sechs Kartonhäuser, die in der Stadt verteilt plaziert sind, sind aus diesem Material gebaut. Eine Geschichte von Zirkulation von Waren und Gütern in einem urbanen Raum.
Im ersten Stock des Kunsthauses Interlaken taucht man gleich mal ab in einen Bunker. «Lost Horizon», die Arbeit von Simone Zaugg, zeigt auf verschiedenen Fotos, einem grossen Wandplakat und in der Videoarbeit „Lullabies for a Bunker“ Ansichten vom Bunker KP Goldey in Unterseen, der Teil des Reduitkonzepts der Schweiz im Zweiten Weltkrieg war. Simone Zaugg hat sich in ihrer Arbeit der Geschichte dieser und ähnlicher militärischer Anlagen angenommen, die sowohl für Schutz wie auch für Kriege stehen können. Vor allem ihr Video gibt Einblick in diese verborgene Welt unter der Erde. Eine Kamera wird auf eine wacklige Fahrt durch unterirdische Büro, Schlaf- und Lagerräume geschickt. Türen öffnen und schliessen sich, Hände ziehen Vorhänge, Füsse trippeln auf dem Boden und drehen einen Bürostuhl. Ein Schlaflied ertönt.
Wo ist Interlaken, denkt man beim Betrachten von Hans-Christian Schinks grossformatiger Diasec-Fotographie, die die Berglandschaft um Interlaken mit einer Nebeldecke zeigt. Der Fotograf, der eine Vorliebe für menschenleere Landschaften hat, hat die Aufnahme vom Beatenberg aus gemacht. Da, eine schmale Wolkensäule! Sie zeigt an, dass sich unter der Nebeldecke der Kamin eines Kraftwerks oder einer Verbrennungsanlage verbergen muss, untrügliches Zeichen für urbane Dichte.
Später noch einmal durch den Park auf der Höhematte spaziert. Die Gleitschirmflieger landen im Minutentakt auf der grünen Wiese. Auf der Bank «Point of Interest» von Véronique Zussau sitzt eine Gruppe von singenden chinesischen Frauen. Eine spielt chinesische Flöte. True Landscape.
Sibylle Omlin, 30. März 2014