THEY ARE HERE. Wer ist da? Und warum sind sie da? Weil Interlaken als urbanes Phänomen zur künstlerischen Auseinandersetzung herausfordert. Die Künstler greifen Themen auf, die für die Historie und für die aktuelle kulturelle, soziale, architektonische, ökonomische und tourismusorientierte Entwicklung der Stadt Interlaken relevant sind. Ihre künstlerischen Prozesse präsentieren sie als erlebbare Interventionen und Installationen im öffentlichen Raum und im Kunsthaus von Interlaken.

 

Die heterogen gewachsene Stadt Interlaken, eingebettet in eine überwältigende Landschaft, wurde von den eingeladenen Künstlerinnen und Künstlern erforscht, untersucht, neu definiert, künstlerisch apostrophiert und in Zeichnungen, Fotografien, Videoarbeiten, Installationen und Performances neu und anders wahrnehmbar gemacht. Ziel des Projektes ist die temporäre Zurückgewinnung des öffentlichen Raumes von Interlaken und Umgebung als Bühne, als Experimentierraum und als Spiegelbild einer kontextuellen und gesellschaftsrelevanten Auseinandersetzung, die sich in künstlerischen Projekten manifestiert.

 

Die Künstlerinnen und Künstler recherchieren Spuren der Vergangenheit, formulieren unbequeme Fragen zu den aktuellen Strukturen, transformieren diese zu Projektionsflächen ihrer Kunst und öffnen sie nun mit dem Ausstellungsprojekt THEY ARE HERE dem Dialog.

 

Interlaken hat als Stadt zwischen den Seen schon lange eine Ausnahmestellung. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Einzug des Alpinismus war diese Kleinstadt mit einschneidenden städtebaulichen Fragen konfrontiert. Interlaken als besonderes rural-urbanes Phänomen, das sozusagen den Begriff der Metropolregion in den Alpen vorweg genommen hat und heute mit 4,2 Millionen Übernachtungen pro Jahr die mit Abstand beliebteste Tourismusdestination der Schweiz ist, hat uns inspiriert, den Diskurs zwischen Kunst und Stadt, zwischen Architektur und Natur, zwischen Einwohner und Besucher, zwischen Werk und Ort hier mit folgenden Fragen neu zu entfachen:

 

Was bedeutet öffentlicher Raum in der alpinen Landschaft und in der Stadt Interlaken heute?
Wie wird der öffentliche Raum hier definiert? Wie verändert er sich?
Wie kann Kunst die kontinuierliche Rückeroberung des öffentlichen Raumes an der Schnittstelle von urban und rural zusammen mit der Bevölkerung vorantreiben?
Wie fügt der Künstler seine persönlichen Strategien in den vorgefundenen Raum, damit sie Reibung erzeugen, Übergänge/ Passagen schaffen und Gewohnheiten brechen?
Wie entstehen Bezugssysteme, die den Ort und seine Vielschichtigkeit gezielt unterwandern, infizieren, widerspiegeln, potenzieren?
Wie können die ortsansässigen Energien in ein Kunstprojekt eingebunden werden?

Beteiligte Künstler:

True Landscapes

Diverse APG-Plakatwände in der Region Interlaken

Point of Interest

Sitzbank mit Vorhängeschlössern gegenüber Hotel Victoria-Jungfrau

Die Arbeiten von Véronique Zussau thematisieren in erster Linie die Raumnutzung (im Sinne der Umwelt) und das kulturelle Bild, das mit dieser Nutzung verbunden ist. In ihrer Wandarbeit „True Landscapes“ lässt die Künstlerin die weltberühmte Silhouette der für Interlakens touristischen Erfolg so wichtigen Bergkette Eiger, Mönch und Jungfrau fast verschwinden, indem sie sie obsessiv immer wieder abbildet. Interpunktiert von vielen kleinen Schlüsseln verweist die Wandarbeit im Kunsthaus auf die Intervention „Point of Interest“ am Höheweg. Einem Bienenschwarm ähnlich versammeln sich hier an einer Parkbank hunderte von Vorhängeschlössern. Brauchtum oder Mode, Tourismus oder Kunst? Die berühmte Bergsilhouette des Berner Oberlandes wird zusätzlich als schwarz in schwarz gehaltene Fotoarbeit und Plakat inszeniert. Das Überlagern von verschiedenartigen Ansichten erzeugt bei Véronique Zussau ungewohnte Bilder, die zusammengenommen für jeden Betrachter ein vollständiges, auf ihn persönlich bezogenes mentales Ganzes ergeben.

www.zussau.ch

Zeittiere und 1251 Einwohner je km²

Nicole Schuck lässt in ihrer Serie „Zeittiere und 1251 Einwohner je km²“ verschiedenformatiger Zeichnungen Fiktion und Wirklichkeit, Dokumentation und Narration aufeinander treffen. Sie kartographiert Interlaken und Umgebung neu und bezieht die jeweils dort wildlebenden Tiere unmittelbar mit ein. Anwohner, Tier- und Umweltspezialisten interviewend, betreibt sie eine Feldforschung, die nicht dokumentieren oder illustrieren, sondern erzählen will. Erdachtes verwebt sich mit Erlebtem, das Reale spiegelt sich in der realistischen zeichnerischen Wiedergabe von Strukturen und Anatomien wieder; das Fiktive in der Auswahl des Fragments und der Zusammenführung von tierischen und topographischen Elementen. So überlagern sich Flugrouten von Paragleitern, Delttafliegern und Fallschirmspringern mit Tierkörpern und Straßennetzen, oder Wege durchziehen Tierlandschaften. Die zeichnerisch erzählenden Zyklen führen den Betrachter in einen Organismus eigener Natur-, Mensch- und Tierwelten. Einige der Zeichnungen sind auf Fahnenstoffe übertragen und werden von Fahnenschwingern der Region bei der Eröffnung nach einer bestimmten Choreographie in die Luft geworfen, um später an diversen Fahnenmasten im Wind von Interlaken zu flattern.

www.nicoleschuck.de

Souvenirs
Heuheinzen mit Heu und gefundener Kleidung

Die Arbeit „Souvenirs“ der KünstlerInnengruppe l’art pour l’aar verbindet die zwei prägenden Wirtschaftszweige des Berner Oberlandes und Interlakens: Landwirtschaft und Tourismus. Die Heuheinzen erinnern an eine früher verbreitete, heute nicht mehr zeitgemässe Kulturform in der Landwirtschaft. Das beim Kunsthaus zum Trocknen aufgehängte Heu wirkt vergessen und verlassen. Die Heinzen mit aufgehängten Kleidern überführen dieses Motiv in einen aktuellen Kontext: Reisende lassen in Interlaken haufenweise Kleider in ihren Unterkünften zurück – stumme Souvenirs eines ultraschnellen, anonymen Tourismus.

www.lartpourlaar.ch

Alien

Gustav Hellberg lässt eine Schar von Aliens in Interlaken einfallen. Gelb leuchtende Augenpaare blicken aus dunklen Winkeln und Fenstern der Interlakener Altstadt auf die Passanten. THEY ARE HERE. Sind sie wirklich hier? Wer sind sie? Mit seiner Arbeit „Alien“ spielt Gustav Hellberg auf unser Vertrauen in das Bekannte und unser Misstrauen gegenüber Fremdem an. Das Unbekannte kann schnell zur Bedrohung werden und unsere scheinbar sichere Situation aus dem Gleichgewicht und in Gefahr bringen. In Interlaken gibt es viele „Fremde“. Die Frage, wann dieses Fremde nun willkommen ist und wann oder warum es auch Angst auslöst, stellte sich der Künstler selbst und gibt sie nun in seiner Arbeit „Alien“ weiter an den Betrachter.

www.gustavhellberg.com

Lullabies for a Bunker 
Video

Simone Zaugg liess sich mit 2 Kameras in einer stillgelegten Bunkeranlage in Unterssen einschliessen. Sie erlebte dort einen Raum, der für Krieg und Schutz gleichermaßen steht. Diese Erfahrung vom gleichzeitigen Ein- und Ausgeschlossen Sein wird in ihrer Videoarbeit Lullabies for a Bunker bildlich und akustisch erlebbar. Während einer Tour d‘Horizon werden die Räume vom Kameraauge abgetastet. Diese Tour wird immer wieder unterbrochen von monotonen, sich wiederholenden, sinnlosen Handlungen. Schlaflieder gesungen von Migranten und Einheimischen in fremden Sprachen fungieren als Übergänge von der Tagwelt in die Traumwelt, von der Realität in die Fiktion, vom Verloren Sein zur Geborgenheit.

Lost Horizon 
Fotoserie

In der Fotoserie Lost Horizon wird die heutzutage nutzlose Infrastruktur des Bunkers KP Goldey durch die Künstler performativ inszeniert.

simonezaugg.net

Interlaken
Fotografie, 185 x 220 cm


Hans-Christian Schink gelingt wieder einmal sein besonderer fotografischer Blick auf das uns vermeintlich Vertraute. Seine Aufnahme des berühmten Panoramas des Berner Oberlandes zeigt uns Interlaken zwischen den Seen eben gerade nicht. Unter dichten Wolken liegt es verborgen während Eiger, Mönch und Jungfrau sich in ganz postkartenuntypischem Grau am Horizont abzeichnen. Einzig das winzige Detail einer gen Himmel steigenden Rauchsäule aus einem Interlakener Schornstein zeigt die tatsächliche Anwesenheit der Menschen inder übermächtigen Natur.

www.hc-schink.de

Tagebuch-Eintrag einer nicht ganz unvoreingenommenen Besucherin.

Interlaken West: Ankunft auf dem Bahnhof. Ich gehe durch die Bahnhofstrasse Richtung Höheweg. Die Bahnhoftrasse wird von vielen Uhrenläden gesäumt, fällt mir auf. Ein Restaurant schreibt die Gerichte in English, Japanisch, Chinesisch und Arabisch an.

Dann, nach einem grossen Kreisel und einem Stück auf dem Höheweg steht man vor der berühmten Höhematte, die den Blick auf die Jungfrau und Schynige Platte freigibt. Die Matte ist seit der Belle Epoque das touristische Herzstück von Interlaken und lässt einen erstmal überrascht den Kopf nach hinten kippen und das Panorama geniessen. Der Höheweg selbst ist gesäumt vom Grand Hotel Victoria Jungfrau, verschiedenen kleineren Hotels, einem Hotelturm namens Metropol aus den 1960er Jahren, aber auch von Wohnhäusern und dem Kunsthaus selber. Die Höhematte bildet die Kernzone der Ausstellung «THEY ARE HERE».

Die Bezüge zu diesem Stück Natur mitten in der Touristenstadt und dem Ausstellungsthema sind fein geknüpft. Die Ausstellung umfasst Werke von 7 Kunstschaffenden, die diese Linien meist vom Aussenraum/öffentlichen Raum ins Innere des Kunsthauses knüpfen.

Vor dem Kunsthaus stehen verschiedene mit Heu vollbeladene Heinzen. Solche Heuheinzen helfen vor allem dann, wenn der Boden zu feucht ist, um das Heu trocknen zu lassen. Diese Heuheinzen sind eine gemeinsame Arbeit der in der Region ansässigen Künstlergruppe l’art pour l’aar, die auf hintersinnige Weise den  Übergang von einem ländlichen Ort zur Stadt reflektiert. Im obersten Stock des Kunsthauses steht eine zweite Gruppe von Heuheizen von l’art pour l’aar– «Souvenirs» – die statt Heu Kleider zu einem Haufen gebündelt tragen. Diese Kleider stammen aus verschiedenen Hotels in Interlaken, wo sie liegengeblieben, vergessen worden sind. Relikte aus dem Tourismusbetrieb, als eine Art Ernte dem Besucher präsentiert. Die Künstlergruppe sticht somit ins Zentrum der Aktivität von „Stadt Berichten“. Sie erzählt von dem Phänomen, das den Tourismus heute als Konsumgut präsentiert. Orte, Landschaften werden in schnellem Tempo konsumiert. Einpacken und Auspacken der Koffer, ab und zu bleibt etwas liegen. Shoppen gehört ja heute zur Hauptaktivität der Touristen.

Aus dem Fenster des Kunsthauses weht eine weisse Fahne. Sie zeigt einen Luchs mit stark geflecktem Fell. Diese Fahne trägt keine Werbeaufschrift. Nur die Zeichnung dieses hierzulande eher seltenen Tieres. Die Zeichnungen von Nicole Schuck karthographieren Fährten von Tieren, die den Stadtraum von Interlaken kreuzen, sei es in der Luft oder am Boden: «Zeittiere und 1251 Einwohner je km2» heisst diese Serie. Im ersten Stock des Kunsthauses finden sich ihre Zeichnungen, die verschiedene Orte beschreiben – Grad, Luegibrüggli, Lombach, Harder – und daran erinnern, dass Interlaken als Tourismusort genau aus solchen Orten besteht, an denen sich die Fährten ihrer Benutzer kreuzen: die Gleitschirmflieger, die Biker, aber auch der Marder, der Fuchs, der Luchs, die Bussarde.

Vor dem Grand Hotel Victoria Jungfrau bietet sich der Höheweg als eine Esplanade, auf dem die Menschen wie in vielen Fremdenverkehrsorten der Welt flanieren. Sitzbänke säumen diesen Weg. Und auf einer Sitzlehne findet sich eine Traube von Schlössern aus Messing, die an die Bank gekettet sind. Eines der heutigen modernen Rituale, sich an einem touristischen Hotspot zu verewigen, ein Schloss an eine Brücke, an einen Brunnen, an ein Geländer anzubringen. Die Schlüssel zu den Schlössern finden sich im Innern des Kunsthauses, im ersten Stock im Rahmen einer Wandinstallation von Véronique Zussau, gebildet aus den verschiedenen ineinandergeklappten Horizontlinien von Landschaftszeichnung der Umgebung. Véronique Zussau interessiert sich in ihrer Arbeit für die Verbindung zwischen Topographien und Objekten, und so legt sie in ihrer «True Landscape» eine gedankliche Linie zu dem «Point of interest» auf der Parkbank.

In dem Ladengeschäft der IBI neben dem Kunsthaus blinkt es…. Zwei gelbleuchtende Augen schauen einen an. Eine seltsame Lampe steht da im Schaufenster. Es ist eines der «Alien» von Gustav Hellberg, die man an verschiedenen Orten in der Stadt und im Treppenhaus des Kunsthauses findet. Später, beim Verlassen der Stadt in Richtung Autobahn, fahren wir an Erich von Daenikens „Mystery Park“ vorbei (heute „Jungfraupark“). Ob sich Gustav Hellberg von Erich von Daenikens Theorien inspiriert fühlte?

Im Parkhaus Zentrum bei der Einfahrt finden wir auf einem Parkplatz ein merkwürdiges kleines Haus aus Karton, eine Art Biwak, fast in der Form eines Schlafsackes mit rundem Einstieg. Das Objekt gehört zu einer Serie von sechs Kleinhäusern aus Karton, initiiert durch den Künstler Pfelder. Pfelder hat von verschiedenen Architekten aus der Region Bern und Interlaken, verschiedene Kartonhäuser entwerfen lassen und diese dann gebaut. Das Kartonhaus erinnert normalerweise an eine Unterkunft von Obdachlosen aus der Grossstadt, in der Kunstwelt wiederum ist es besetzt durch die ephemeren Karton-Diskurs-Bauten von Thomas Hirschhorn. Der Hintergrund zu dieser Idee deckt aber noch eine andere Geschichte auf  : das Recyclingkonzept in der Stadt Interlaken lässt einmal pro Woche eine grosse Kartonsammlung vor den Geschäften der Stadt entstehen. Pfelder hat dieses Material gesammelt und die Menge einer Woche ins Museum gebracht (im obersten Stockwerk). Die sechs Kartonhäuser, die in der Stadt verteilt plaziert sind, sind aus diesem Material gebaut. Eine Geschichte von Zirkulation von Waren und Gütern in einem urbanen Raum.

Im ersten Stock des Kunsthauses Interlaken taucht man gleich mal ab in einen Bunker. «Lost Horizon», die Arbeit von Simone Zaugg, zeigt auf verschiedenen Fotos, einem grossen Wandplakat und in der Videoarbeit „Lullabies for a Bunker“ Ansichten vom Bunker KP Goldey in Unterseen, der Teil des Reduitkonzepts der Schweiz im Zweiten Weltkrieg war. Simone Zaugg hat sich in ihrer Arbeit der Geschichte dieser und ähnlicher militärischer Anlagen angenommen, die sowohl für Schutz wie auch für Kriege stehen können. Vor allem ihr Video gibt Einblick in diese verborgene Welt unter der Erde. Eine Kamera wird auf eine wacklige Fahrt durch unterirdische Büro, Schlaf- und Lagerräume geschickt. Türen öffnen und schliessen sich, Hände ziehen Vorhänge, Füsse trippeln auf dem Boden und drehen einen Bürostuhl. Ein Schlaflied ertönt.

Wo ist Interlaken, denkt man beim Betrachten von Hans-Christian Schinks grossformatiger Diasec-Fotographie, die die Berglandschaft um Interlaken mit einer Nebeldecke zeigt. Der Fotograf, der eine Vorliebe für menschenleere Landschaften hat, hat die Aufnahme vom Beatenberg aus gemacht. Da, eine schmale Wolkensäule! Sie zeigt an, dass sich unter der Nebeldecke der Kamin eines Kraftwerks oder einer Verbrennungsanlage verbergen muss, untrügliches Zeichen für urbane Dichte.

Später noch einmal durch den Park auf der Höhematte spaziert. Die Gleitschirmflieger landen im Minutentakt auf der grünen Wiese. Auf der Bank «Point of Interest» von Véronique Zussau sitzt eine Gruppe von singenden chinesischen Frauen. Eine spielt chinesische Flöte. True Landscape.

Sibylle Omlin, 30. März 2014

  • Jahr

    2014

  • Ort

    Kunsthaus Interlaken, Schweiz